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Bis Ende der 1950er Jahre hatte das noch keinen spürbaren Einfluss auf die Modellpaletten der einzelnen Hersteller, die alle verschiedenste Modellvarianten im Angebot hatten. Allerdings waren auch schon Spezialisierungsrichtungen bei den nach 1957 verbliebenen drei staatlichen Fahrradproduzenten erkennbar: [[Diamant]] hatte an seine Vorkriegstradition angeknüpft und neue [[Diamant Rennrad-Modelle|Renn-]] und [[Diamant Sportrad-Modelle|Sporträder]] entwickelt, [[Mifa]] baute einfache [[Mifa Kinderräder|Kinderräder]] und [[Möve]] war alleiniger Hersteller von Saalsportmaschinen. Andererseits bauten alle Hersteller auch nahezu identische Modelle wie z.B. schwere 28"-Tourenräder, die sich in Bauart und Ausstattung nicht wesentlich unterschieden. Bedingt durch die staatlich vorgeschriebenen Festpreise brachten die "Konkurrenzmodelle" der verschiedenen Hersteller auch keinen Preisvorteil für den Verbraucher mit sich. Der Verbraucherendpreis (VEP) für vergleichbare | Bis Ende der 1950er Jahre hatte das noch keinen spürbaren Einfluss auf die Modellpaletten der einzelnen Hersteller, die alle verschiedenste Modellvarianten im Angebot hatten. Allerdings waren auch schon Spezialisierungsrichtungen bei den nach 1957 verbliebenen drei staatlichen Fahrradproduzenten erkennbar: [[Diamant]] hatte an seine Vorkriegstradition angeknüpft und neue [[Diamant Rennrad-Modelle|Renn-]] und [[Diamant Sportrad-Modelle|Sporträder]] entwickelt, [[Mifa]] baute einfache [[Mifa Kinderräder|Kinderräder]] und [[Möve]] war alleiniger Hersteller von Saalsportmaschinen. Andererseits bauten alle Hersteller auch nahezu identische Modelle wie z.B. schwere 28"-Tourenräder, die sich in Bauart und Ausstattung nicht wesentlich unterschieden. Bedingt durch die staatlich vorgeschriebenen Festpreise brachten die "Konkurrenzmodelle" der verschiedenen Hersteller auch keinen Preisvorteil für den Verbraucher mit sich. Der Verbraucherendpreis (VEP) für vergleichbare Modelle der verschiedenen Hersteller war in der Regel identisch oder betrug nur wenige DM Unterschied. | ||
Da dieses Nebeneinander von nahezu gleichen Fahrradmodellen als unwirtschaftlich erkannt wurde, beschloss man eine grundlegende Neuorientierung der DDR-Fahrradindustrie. Diese Reform fand im Jahr 1959/1960 mit weitreichenden Konsequenzen ihre Umsetzung in einer umfassenden Standardisierung und Typisierung der Fahrradmodelle und | Da dieses Nebeneinander von nahezu gleichen Fahrradmodellen als unwirtschaftlich erkannt wurde, beschloss man eine grundlegende Neuorientierung der DDR-Fahrradindustrie. Diese Reform fand im Jahr 1959/1960 mit weitreichenden Konsequenzen ihre Umsetzung in einer umfassenden Standardisierung und Typisierung der Fahrradmodelle und der zugehörigen Komponenten. | ||
==Standardisierung und Typisierung== | ==Standardisierung und Typisierung== |
Version vom 5. Juni 2020, 10:37 Uhr
Ausgangslage
In der Zentralverwaltungswirtschaft (Planwirtschaft) der DDR wurde auch die gesamte Fahrradindustrie von der Staatlichen Plankommission (SPK) koordiniert. Die SPK gab im Rahmen der Fünfjahrpläne die zu erreichenden Produktionszahlen für jeden Betrieb vor.
Bis Ende der 1950er Jahre hatte das noch keinen spürbaren Einfluss auf die Modellpaletten der einzelnen Hersteller, die alle verschiedenste Modellvarianten im Angebot hatten. Allerdings waren auch schon Spezialisierungsrichtungen bei den nach 1957 verbliebenen drei staatlichen Fahrradproduzenten erkennbar: Diamant hatte an seine Vorkriegstradition angeknüpft und neue Renn- und Sporträder entwickelt, Mifa baute einfache Kinderräder und Möve war alleiniger Hersteller von Saalsportmaschinen. Andererseits bauten alle Hersteller auch nahezu identische Modelle wie z.B. schwere 28"-Tourenräder, die sich in Bauart und Ausstattung nicht wesentlich unterschieden. Bedingt durch die staatlich vorgeschriebenen Festpreise brachten die "Konkurrenzmodelle" der verschiedenen Hersteller auch keinen Preisvorteil für den Verbraucher mit sich. Der Verbraucherendpreis (VEP) für vergleichbare Modelle der verschiedenen Hersteller war in der Regel identisch oder betrug nur wenige DM Unterschied.
Da dieses Nebeneinander von nahezu gleichen Fahrradmodellen als unwirtschaftlich erkannt wurde, beschloss man eine grundlegende Neuorientierung der DDR-Fahrradindustrie. Diese Reform fand im Jahr 1959/1960 mit weitreichenden Konsequenzen ihre Umsetzung in einer umfassenden Standardisierung und Typisierung der Fahrradmodelle und der zugehörigen Komponenten.
Standardisierung und Typisierung
Zum einen wurden zahlreiche Zulieferteile standardisiert und teilweise vereinfacht, um die Produktionskapazitäten der Zulieferer besser auszulasten und die Versorgung der einzelnen Fahrradwerke zu verbessern. In einem zweiten Schritt folgte eine gründliche Sortimentsbereinigung (Typisierung) bei den zu dieser Zeit noch produzierenden Fahrradwerken Diamant, Mifa und Möve. Standen dem Verbraucher vor dieser Bereinigung noch 46 verschiedene Fahrradmodelle aus DDR-Produktion zur Verfügung, halbierte sich dieses Angebot nun auf 23 Modelle. Zwar sollte diese Ausdünnung keine negativen Folgen auf die Modellauswahl haben, doch in der Markenauswahl war man nun abhängig vom Fahrradtyp stark eingeschränkt. Ob der noch bis Ende 1962 produzierende VEB Fahrradwerk Crinitz N/L in die Sortimentsbereinigung einbezogen wurde, ist ungewiss. Zu dieser Zeit produzierte man in Crinitz nur noch Fahrradrahmen (bzw. sog. Rahmensets). Insgesamt war der Betrieb wohl zu unbedeutend, um mit/für ihn zu werben (vergleiche die untens abgebildeten Werbeanzeigen). Auffällig ist ferner, dass bis Ende der 1950er Jahre Damen-Tourenräder parallel in bis zu drei verschiedenen Rahmenformen angeboten wurden. Nach der Sortimentsbereinigung beschränkte man sich bei diesen Fahrradtypen auf maximal zwei Rahmenformen.
Die Zeitschrift IFA mobil-report, Ausgabe 2/1959 berichtete im Spätsommer/Frühherbst 1959 über die "Standardisierung in der Fahrradindustrie" wie folgt:
"Charakteristisch für die Entwicklung der Fahrradindustrie in der Deutschen Demokratischen Republik in den letzten Jahren war das Bestreben, möglichst vielen Käuferwünschen gerecht zu werden und ein großes Sortiment bereit zu halten. So entstanden in den drei Fahrradwerken der DDR, Diamant - Möve - Mifa -, von Jahr zu Jahr neue Modelle, bei denen man in der Ausstattung und Lackierung immer wieder neue Wege beschritten hat. Wirtschaftlich gesehen ist es aber wenig sinnvoll, eine Vielzahl Modelle zu produzieren, die teilweise nur geringe Unterscheidungsmerkmale aufweisen. Letzten Endes erschwerte dieser Zustand nicht nur der Fahrradindustrie und deren Lieferanten eine rationelle Fertigung, sondern es ergaben sich auch beim Handel Schwierigkeiten. Man stelle sich nur die dadurch komplizierte Ersatzteilhaltung beim Fachhandel vor.
Diese Tatsache war wohl auch ein Anlaß, daß in den letzten Monaten in der DDR der Standadisierung ein besonderes Augenmerk geschenkt wurde. Die erlassenen Verordnungen und Gesetze gaben der Standadisierung dabei neue Impulse.
Maßgebliche Techniker setzten sich zusammen, um die gewiß nicht einfache Aufgabe zu bewältigen, für die Fahrradindustrie der DDR Standards zu schaffen, die die hauptsächlichen Fahrradteile und Fahrradaggregate [komplette Baugruppen] in den Haupt- und Anschlußmaßen verbindlich festlegten.
Es ist verständlich, daß es ein nicht zu unterschätzender Vorteil ist, wenn bei den in der DDR hergestellten Fahrrädern alle Teile und Aggregate austauschbar sind.
Gerade das Fahrrad als Massenprodukt eignet sich wie kein anderes dazu, die Standardisierung bis zum Äußersten anzuwenden. Ein typisches Beispiel dafür ist das Pedal. Einschließlich Erstausstattung und Ersatzteilversorgung werden jährlich mehrere Millionen Stück benötigt. Was liegt wohl näher, als gerade das Pedal in seinem inneren Aufbau und seinen Anschlußmaßen zu standardisieren und auf den höchsten Stand der Technik zu bringen? Auf viele andere Aggregate trifft dies selbstverständlich ebenfalls zu. Für die Ergebnisse der Standardisierung ein Beispiel:
Zu den Damen- und Herrenfahrrädern, die als Tourenfahrräder bezeichnet werden, gehörten bisher 27 verschiedene Muffen für die Rahmenverbindungen. Nach der Standardisierung gibt es nur noch 11. Die Vorteile dieser Standardisierung wird nicht nur der Technologe, sondern auch der Wirtschaftler begrüßen.
Natürlich darf die Standardisierung nicht zu einem starren Dogma werden. Dem Konstrukteur muß den Besonderheiten eines Modells entsprechend in der äußeren Gestaltung noch genügend Spielraum bleiben, um dem Geschmack der Käufer Rechnung tragen zu können.
Erfreulicherweise hat auch der deutsche Normenausschuß die Standards der Fahrradindustrie der DDR begrüßt und es ist damit zu rechnen, daß unsere Standards als Grundlage einer einheitlichen Normung der westdeutschen Fahrradindustrie empfohlen werden.
Die Neuorientierung in der Fahrradindustrie der DDR geht über die Standardisierung zur Typisierung der Fahrradmodelle. Nach einer genauen Überprüfung sind die verantwortlichen Techniker der drei Werke übereingekommen, das Sortiment von 46 auf 23 Modelle zu reduzieren. Dabei kommen prinzipiell nur solche Modelle in Wegfall, die in gleicher oder ähnlicher Form in den Fahrradwerken zugleich produziert wurden. Unsere Fahrradindustrie kann also auch nach der durchgeführten Typenbereinigung allen Käufern des In- und Auslandes für jeden Zweck das geeignete Fahrrad anbieten. Das Sortiment bleibt in seiner Zusammensetzung genau so vielseitig wie vorher.
Schritt für Schritt werden in der Fahrradindustrie in beharrlicher Arbeit die festgelegten Standardisierungsaufgaben verwirklicht, denn hier liegen noch viele ungenutzte Reserven, die es im Sinne einer größtmöglichen Wirtschaftlichkeit zu erschließen gilt."
Die neue Modellpalette - Systematik der Typenbezeichnungen
Die neue (gemeinsame) Modellpalette ergab sich entsprechend der schon vorhandenen Spezialisierungen:
Alle nun verfügbaren Modelle erhielten neue, dreistellige Bezeichnungen ("Typ"), denen eine "35" vorangestellt war, was offenbar das Fahrradsortiment als ganzes zusammenfassen sollte. Nicht selten entfiel diese "35" in Katalogen und Prospekten jedoch. Aus der dreistelligen Modellnummer lassen sich Fahrradart, Rahmenform (für Damen oder Herren) sowie die Überarbeitung/Weiterentwicklung eines Modells recht genau ablesen.
Die erste Ziffer bezeichnet den Typ (die Art) des Fahrrades und schlüsselt sich wie folgt auf:
Reihe | Fahrradtyp | Bemerkungen |
---|---|---|
100 | Tourenräder 28", Sportliche Tourenräder 26" | |
200 | Sporträder 28" | |
300 | Jugendräder, Kinderräder bis einschließlich 24" | |
400 | Kinderräder 20" und kleiner | |
500 | Gepäckräder | Ab 1983 auch Mifa-Universalfahrräder. |
600 | Tandems | Ab 1986 |
700 | Rennräder, Rennsporträder | |
800 | Saalsporträder | |
900 | Klappräder | Ab 1967 |
1000 | BMX-Fahrräder | Teilweise auch: "1.00X". Ab 1988. |
Die zweite Ziffer der Modellnummer gibt an, ob es sich um ein Damen- oder ein Herrenrad handelt (auch bei Jugendrädern; ausgenommen Unisex-Räder wie Kinder-, Saalsport- oder Transporträder)). Eine 0 oder 1 ("1" = überarbeitete Version) stehen dabei für Herrenräder, für Damenräder eine 5 oder 6 ("6" = überarbeitete Version).
Die dritte Ziffer der Modellnummer bezeichnet die (zumeist fortlaufende) Modell-Variante.
Damit lässt sich eine vollständige Modellnummer beispielsweise wie folgt lesen: Mifa Modell 35 153 = Damen-Tourenrad (28"); Mifa Modell 35 211 = Herren-Sportrad (28") - überarbeitete Version des Modells 35 201.
Die weitere Entwicklung
Ab wann genau die Sortimentsbereinigung tatsächlich in der Produktion umgesetzt wurde, kann derzeit noch nicht abschließend beantwortet werden. Eine Beilage in der genannten Zeitschrift IFA mobil-report führt bereits die drei großen Fahrradbetriebe mit ihren Spezialisierungen auf (siehe Tabelle im Abschnitt "Neue Modellpalette"). Eine andere Quelle verweist auf den Beginn des Jahres 1960 - in einem Mifa-Katalog von 1959 heißt es: "Um die Standardisierung und Typisierung durchzuführen, werden ab Januar 1960 nicht mehr eine Vielzahl von Modellen in den einzelnen volkseigenen Fahrradwerken produziert."
Präsentation der Fahrradwerke Mifa, Diamant und Möve auf der Leipziger Frühjahrsmesse 1960 mit ihrem spezialisiertem Sortiment nach der Sortimentsbereinigung.
Bei den meisten der seit 1959/1960 produzierten Modelle hatte die neue Typenbezeichnung zunächst keine sichtbaren technischen Änderungen zur Folge. Es ist anzunehmen, dass nicht alle neuen Standards sofort in der Fahrrad-Produktion umgesetzt wurden, da vorhandene Bestände (Rohre, Muffen, Zulieferteile etc.) zunächst verbraucht worden sein dürften. Schon kurz nach der Reform wurden jedoch einige Details im Rahmenbau verändert; u.a. weil durch die veränderte Produktion neue Verfahren entwickelt und eingesetzt wurden. Auch bei Komponenten, wie den im zitierten Zeitschriftenartikel genannten Pedalen ist eine Vereinheitlichung nachweisbar (vgl. die im Artikel Pedale aufgeführten Tourenpedale, die baugleich von mehreren Herstellern parallel produziert wurden).
In zeitgenössischer Literatur wird die Richtigkeit der Sortimentsbereinigung mit den Produktionserfolgen der drei Fahrradwerke belegt und ein Produktionsvolumen von 2.000 Fahrrädern pro Tag angegeben.
Schon kurze Zeit nach der Sortimentsbereinigung kam es zu einer erneuten Umgestaltung, weil bei Möve im Jahr 1961 die Fahrradproduktion beendet wurde. Die entfallenen Möve-Modelle wurden teilweise durch entsprechende Mifa-Modelle ersetzt. Eine Verwässerung der Sortimentsbereinigung trat Ende der 1960er Jahre ein, als Pläne zur Beendigung der Fahrradproduktion bei Diamant dazu führten, dass die Basisausführungen der Sport- und Tourensporträder von Mifa übernommen wurden. Wegen einer Fehleinschätzung des Fahrradbedarfs, wurde die Produktion von Tourensport- und Rennrädern bei Diamant dann doch fortgesetzt. Infolgedessen wurden nun nahezu baugleiche 26"-Tourensportäder sowohl von Diamant als auch Mifa hergestellt, woran sich bis zum Ende der DDR nichts mehr änderte. Gleichzeitig litt der bisher gute Ruf der Diamantfahrräder, da die Sporträder nun bei Mifa hergestellt wurden und die verbliebenen Rennräder technisch zusehends veralteten.